Mythen halten sich hartnäckig und versperren den Weg zu etwas Neuem. Darum müssen sie dringend beiseite geschafft werden. Kate räumt in ihrem Buch mit einigen überholten Glaubenssätzen auf, die aber in Wirtschaft und Gesellschaft noch heute weit verbreitet sind.
Mythos 1
Länder und Nationen müssen die Schmerzen durch soziale Ungleichheit aushalten, wenn sie reichere und gerechtere Gesellschaften für alle schaffen wollen.“ Denn die Kuznets-Kurve besagt: Während die Wirtschaft wächst, nehmen die Einkommensunterschiede erst zu, dann stagnieren sie, um schließlich wieder abzunehmen.
Falsch. Zunehmende Ungleichheit ist keine notwendige Phase in der Entwicklung einer Nation, sondern eine bewusste politische Entscheidung. In ihrer Studie über das ostasiatische Wunder („The East Asian Miracle“) analysierte die Weltbank in den 90er Jahren, dass Länder wie Japan, Südkorea, Indonesien und Malaysia rasches Wachstum auch ohne steigende Ungleichheit und wachsende Armutsraten erreichten. Nämlich durch Landreformen, welche die Löhne von Kleinbauern stützten, durch starke staatliche Investitionen in Gesundheit und Bildung sowie durch eine Industriepolitik, welche die Löhne der Arbeiter:innen anhob, die Lebensmittelpreise aber zugleich deckelte. Seit den 80er Jahren nimmt die gerechte Einkommensverteilung in vielen Ländern mit hohem Einkommen wieder ab. Die Lücke zwischen Einkommen aus Arbeit und Einkommen aus Kapital wird, wie der französische Wirtschaftswissenschaftler Thomas Picketty belegt, immer größer.
Mythos 2
Ungleichheit ist eine notwendige Voraussetzung für Fortschritt. Wenn die Reichen reicher werden, bekommen auch die Armen mehr vom Kuchen ab.
Falsch. Der sogenannte Trickle-Down-Effekt wurde spätestens in den 80er Jahren widerlegt. Thomas Picketty hat auch darauf hingewiesen, dass Ungleichheit seit dem Ende des kalten Krieges wieder stark zunimmt. Denn wenn die Kapitalrendite schneller wächst als die Wirtschaft, dann wächst auch das bestehtende und vererbte Vermögen schneller als die Einkommen aus Arbeit. Das Ergebnis: Die Ungleichheit nimmt immer weiter zu. Laut dem Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) hat sich die Einkommensungleichheit in Deutschland zwischen den Geburtenjahrgängen 1935 und 1972 verdoppelt.
Mythos 3
Wenn jeder nach dem eigenen Nutzen strebt, sind alle gut versorgt. Das ist die Idee des „homo oeconomicus“. Kompetitives, eigennütziges Verhalten sei ein natürlicher Zustand des Menschen.
Falsch. Der homo sapiens ist die kooperativste Spezies auf dem Planeten. Wir tragen beide Komponenten – die egoistische und die kooperative – in uns. Doch es sind die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen und Normen, die beeinflussen, was sich in einer gewissen Zeit als erstrebenswert durchsetzt.
Mythos 4
Handelsbanken wandeln die Spareinlagen der Menschen in Investitionen um.
Falsch. Das hat die Finanzkrise 2008 widerlegt. Handelsbanken erschaffen Geld aus dem Nichts jedes Mal, wenn sie Geld leihen. Seit den 80er Jahren ist dieses System der Schulden dank der Abschaffung von Regularien überproportional gewachsen. Fortan mussten Banken Sparguthaben und Anleihen nicht länger von ihren spekulativen Investitionen trennen. Bankreserven decken heute bei weitem nicht mehr die Geldflüsse, die im Umlauf sind. Im Ernstfall, wie in der Bankenkrise 2008 geschehen, können die Banken heute die virtuellen Kontobeträge real nicht mehr auszahlen.
Mythos 5
Der Finanzhandel glättet die Wirtschaftsschwankungen.
Falsch. Dieser Mythos geht zurück auf Eugene Famas einflussreiche Markteffizienzhypothese von 1970, wurde aber auch durch die Finanzkrise 2008 widerlegt und mit Hyman Minskys Hypothese finanzieller Instabilität ersetzt. Der Finanzmarkt heute, so Minskys Argument, befeuert Wirtschaftsschwankungen eher. Denn es findet ein Herdentrieb in beide Richtungen statt: positive Zukunftserwartungen führen zu weiteren Investitionen (bis die Blase platzt) und negative Zukunftserwartungen führen dazu, dass alle gleichzeitig ihre Anlagen verkaufen wollen (sich verstärkende Feedbackloops).
Mythos 6
Die Finanzwirtschaft leistet wertvolle Dienste für die produktive Wirtschaft.
Falsch. Auch das hat die Finanzkrise 2008 widerlegt. Heute spielt die Finanzwirtschaft schon lange keine Nebenrolle mehr, sondern dominiert die produktive Wirtschaft. In vielen Ländern kontrolliert eine kleine Finanzelite das öffentliche Gut, Geld herzustellen und profitiert reichlich davon. Dabei destabilisiert diese Elite meist den Rest der Wirtschaft. Die Finanzwirtschaft muss auf den Kopf gestellt werden, um wieder der Wirtschaft und Gesellschaft zu dienen.
Mythos 7
Die Mär vom freien Handel und freien Märkten.
Falsch. Schutzzölle, eine subventionierte Wirtschaft und die Gründung von Staatsunternehmen sprechen hier eine andere Sprache. Großbritannien und die USA waren in der Vergangenheit sehr protektionistisch unterwegs, als sie ihre Industrie aufbauten. Erst als sie wettbewerbsfähig geworden sind, kam die Forderung nach der Abschaffung von Handelsbarrieren. Heute verweigern sie Entwicklungsländern die Möglichkeit, ihre „infant industry“ zu schützen und aufzubauen. So sorgen sie dafür, dass diese Länder zum großen Teil Rohstofflieferanten bleiben und die Wertschöpfung woanders (meist in den entwickelten Ländern) stattfindet. Ein internationales Fallbeispiel wäre hier die viel diskutierte Energiewende: Sind die neuen Handels-Verträge zur Wasserstoffproduktion, zur Ressourcenbeschaffung für Solar- und Windkraftanlagen in Afrika wirklich fair oder haben sie eher einen neokolonialen beziehungsweise neoimperialen Charakter? Jahrelang subventionierte der deutsche Staat die Atomkraft und fossile Energien statt Solar und Windkraft. Das führte dazu, dass sich erneuerbare Energien lange nicht durchsetzen konnten. Seit den 70er Jahren hat sich der Staat immer weiter zurückgezogen und immer mehr Macht an den Markt abgegeben. Heute agiert der Staat eher häufig im Dienste des Marktes. Es braucht effektive Kooperation zwischen Regierungen, damit alle vom freien Handel profitieren und die Gewinne fair verteilt werden.
Mythos 8
Grünes Wachstum und alles wird gut.
Höchstwahrscheinlich falsch. Eine relative Entkopplung (also wenn das BIP schneller wächst als die Ressourcennutzung) reicht in hochentwickelten Ländern wie denen Europas nicht mehr aus, um das 1,5-2 Grad-Ziel von Paris noch zu erreichen. Eine absolute Entkopplung (also wenn die Ressourcennutzung in absoluten Zahlen zurück geht, das BIP aber trotzdem steigt) war, wenn überhaupt, bislang nur in einigen wenigen Ländern und nur vorübergehend möglich. Hinzukommt, dass das Umstellen auf erneuerbare Energien viel Zeit kostet. Zeit, die wir heute nicht mehr haben. Die wenigsten Politiker:innen trauen sich, das in dieser Deutlichkeit zu sagen. Diese Meta-Studie zeigt deutlich, dass Grünes Wachstum mit dem 1,5-2 Grad-Ziel nicht vereinbar ist: Hickel, J. & Kllis, G. (2020). Is Green Growth Possible? New Political Economy.